Eckhard Fuhr
Quelle:
„Welt“, Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Vor einigen Wochen hat das Jahr 2004 begonnen. Das erste Jahrzehnt nähert sich damit seinem Scheitelpunkt und ich beginne mich zu fragen, was denn die Signatur dieser Dekade sei. Wie wird man sie benennen? Die „Zehner“-Jahre kommen erst noch. Was zwischen den Neunzigern und den Zehnern liegt, hat keinen Namen. Vielleicht ist diese terminologische Verlegenheit heilsam. Sie unterbricht die routinierte Periodisierung der Weltgeschichte nach popkulturellen Stilmerkmalen und den leer drehenden Zirkel der Retro-Trends. Das kann den Kopf freimachen, zum Beispiel für das Nachdenken über das Dauerhafte, über das Nachhaltige, über das Fortwirkende, das erkennbar wird, wenn das nervöse Flackern der Moden und des wertschöpfungsfreien Geldverdienens erlischt. Dann zieht es die Menschen an Orte, die überdauert haben.
Am Abend des Neujahrstages ging ich abends auf ein Bier in eine der auch im Prenzlauer Berg selten gewordenen Berliner Eckkneipen. Es war laut und voll. Es herrschte ein fröhliches Sprachengewirr, wie es sich für eine Metropole gehört. Junge Italiener fragten ihre polnischen Freundinnen in unbeholfenem Englisch, ob sie lieber Schusterjungen mit Schmalz und Harzer Käse oder Schnitzel mit Kartoffelsalat essen wollten. Und das Bürgerbräu floß durch ihre Kehlen, als wollten sie die Erinnerung daran hinwegspülen, daß zu Hause in Mailand oder Rom das Bier in Fingerhüten serviert wird. Am Tresen stand in dem Trubel ein alter Mann, der in stoischer Ruhe, aber doch zielstrebig, also nicht nur nippend, sein Pils trank. Die Luft war rauchgeschwängert, die Wände des Schankraumes trugen jahrzehntealte braun-graue Patina, die Lampen gaben gelbliches Dämmerlicht. Durch die Butzenscheiben der Fenster konnte man nicht hinausschauen. Es hatte also nichts zu bedeuten, daß der Mann wie seine dicken Brillengläser im Kassengestell vermuten ließen, stark sehbehindert war. Auch ein Adlerauge hätte wenig erkennen können.
Dem Mann zu Füßen lag ein weißer Spitz. Eigentlich hatte zuerst der Spitz meine Aufmerksamkeit gefesselt. Spitze sind selten geworden. Sie gehören zu den gefährdeten Haustierrassen. Früher waren sie Allerweltshunde. Sie bewachten die Ställe oder Flußkähne oder wärmten Betten und Herz mancher Witwe Bolte. Der Spitz war der Hund der kleinen Leute. Er ernährte sich mehr oder weniger redlich. Der falsche Verdacht die gebratenen Hühner gefressen zu haben, den er bei Wilhelm Busch auf sich zieht, mag durch manche Erfahrung gespeist sein. Heute taugt der Spitz zu nichts mehr, vor allem nicht zur hundegestützten Selbstinszenierung wie die wildromantischen Huskies oder die fitneßgestählten Dobermänner oder die exzentrischen Möpse, ganz zu schweigen von den Retrievern, die beim gehobenen Landhausstil ein Muß sind. Der Spitz ist das Kassengestell unter den Hunden. Ihn hat, wen Identitätsfragen nicht behelligen. Der Mann und der Spitz boten ein Bild der Würde. Fast hatten diese beiden kleinbürgerlichen Proletarier oder proletarischen Kleinbürger etwas Vornehmes. Sie hatten hier am Tresen ihre angestammten Rechte, sie standen für die Tradition dieses Ortes, sie repräsentierten den Adel der Kneipe, in die das unruhig suchende junge Volk der Hauptstadt strömte, als werde hier ein Feuer gehütet, von dem man in den angesagten Locations der Szene wenig weiß.
Es wäre nicht verkehrt, wenn man in diesem namenslosen Jahrzehnt die Würde der kleinen Leute mit Kassengestell und Spitz wieder entdeckte. Die Modernisierungsrhetoriker haben über sie viel Spott und Verachtung ausgegossen. Jetzt dämmert es manchem, dass der Tanz ums Goldene Kalb des ratlosen Wandels bizarre Züge angenommen hat. Deswegen sind die Kneipen, die so sind, wie sie immer waren, so voll.