– Eine Familiengeschichte –
Zur Jahrhundertwende (19. / 20. Jh.), als meine Großeltern noch jung waren, besaß mein Großvater eine Mühle auf dem Land.
Die Zeiten waren rauh, die Landbevölkerung arm und da der alte Hofhund gestorben war, brauchte mein Großvater also dringend einen neuen zuverlässigen Wachhund. Er hatte in der ganzen Umgebung nach einem vielversprechenden Welpen gesucht, aber keinen finde können. Schließlich hatte er einem Fuhrmann einen von dessen zwei Spitzen abgekauft. Es war ein imposanter zotteliger Wolfsspitz mit dem sinnigen Namen „Wolf“.
Wolf war zwar noch jung, aber durchaus schon erwachsen und so war er bereits gut auf seinen alten Herrn geprägt. Nun waren ja nicht nur die Zeiten und Sitten rauh, sondern auch die Wachhunde mussten es natürlich sein, wenn sie ihrem Namen gerecht werden sollten.
Wolf ließ sich von niemandem anfassen, geschweige denn, dass er auf meinen Großvater hätte hören wollen und verweigerte auch beharrlich das ihm angebotene Futter.
Also wurde der bockige Kerl mit der Kette, die ihm der Fuhrmann in weiser Voraussicht noch angelegt hatte, im Ziegenstall angebunden und eingesperrt. Für ganze drei Tage. In dieser Zeit bekam er nichts zu Fressen, sondern nur klares Wasser aus dem Mühlbach. Die Tage und Nächte verbrachte er damit, an seiner Kette zu zerren und zu nagen, begleitet von tobendem Gebell und markdurchdringendem Geheul.
Mein Großvater schnitt derweil in aller Seelenruhe mehrere dicke Kanten von einem Brotlaib ab und klemmte sie sich während seiner schweißtreibenden Arbeit unter die Achseln, bis sie sich regelrecht mit seinem Schweiß vollgesogen und damit seinen Geruch angenommen hatten.
Nach drei Tagen ging er dann mit dem ersten dieser Brotkanten in den Ziegenstall, setzte sich in Wolfs Nähe, brach ein Stück davon ab und bot es dem ausgehungerten Hund an. Dieser jedoch würdigte ihn nach wie vor keines Blickes, sondern knurrte ihn nur böse an und fletschte die Zähne. Daran änderte sich an den folgenden zwei Tagen nicht das Geringste.
Als mein Großvater am darauffolgenden Tag wieder zu Wolf in den Stall ging, wollte dieser ihm das Brotstück gleich wütend und gierig aus der Hand reißen. Ein solches Benehmen aber gefiel nun wiederum meinem Großvater nicht und so ging Wolf auch dieses Mal leer aus.
Nach Ablauf eines weiteren Tages ging er wieder in den Ziegenstall und fand Wolf dort vor, halb vor sich hindösend und sichtlich geknickt. Nachdem mein Großvater sich eine Weile schweigend neben ihn gesetzt hatte, bot er ihm erneut die inzwischen stark müffelnden Brotstückchen an, die dieser ihm, mit angelegten Ohren und deutlicher Demutshaltung, vorsichtig aus der Hand nahm.
An weiteren zwei Tagen bekam er nun noch nur diese schweißgetränkten Brotstücke aus der Hand meines Großvaters zu fressen, ließ sich dabei zunehmend bereitwilliger anfassen und freute sich schließlich sichtlich beim Auftauchen seines neuen Herrn. So wurde Wolfs Kette durch einen Strick ersetzt, dessen anderes Ende mein Großvater an seinem Gürtel festzurrte und ihn so den ganzen Tag auf Schritt und Tritt mitnahm. Die Nacht allerdings verbrachte der Hund wieder im Stall.
Nach zwei Wochen begleitete Wolf meinen Großvater ohne jeden Strick und wich ihm nicht mehr von der Seite.
Da er sich in der Folgezeit auch von meiner Großmutter und den Kindern immer besser anfassen und sogar kraulen ließ, durfte er bald sogar mit in die Stube, wo er dann bei den gemeinsamen Mahlzeiten der Familie vorzugsweise mit meinem ältesten Onkel unter dem Tisch saß, der, sehr zum Ärger meiner Großmutter, immer im Wechsel mit Wolf von seinem Butterbrot abbiss.
Bis zu seinem Lebensende blieb Wolf seiner Familie ein treu ergebener unbestechlicher Wächter. Gnade Gott demjenigen, der einem der Familienmitglieder zu nahe gekommen wäre und wer unaufgefordert die Mühle betreten hatte, den ließ er nicht mehr hinaus!
Der einzige Mensch, der diesen großen freilaufenden Spitz dann noch wirksam zurückrufen konnte, war und blieb mein Großvater!